Ich sitze vor einem mit Papieren und Akten überladenen Schreibtisch im Büro eines korpulenten Mannes mit grüner Brille. Den grauhaarigen Arzt schätze ich auf Ende 50. Er blickt mir in die Augen. »Herr Wolfmann, Sie kommen leider zu spät. Ihr Urgroßvater starb vor zwei Stunden, und zwar an einer Lungenembolie. Folgen des Unfalls.«
Er faltet die Hände, als bitte er mich um Vergebung, dass er meinen Uropa nicht retten konnte. Er beugt sich vor. »Ich spreche Ihnen mein Beileid aus. Ihr Urgroßvater war ein medizinisches Wunder – jedenfalls für mich. Obwohl 95 Jahre alt, sah er aus wie Mitte 60. Wahnsinn!«
Ich hebe eine Hand. »Gestern feierte er seinen 96. Geburtstag.«
Der Arzt nickt. Er fährt fort: »Ich habe die Akte des Hausarztes studiert, eine dünne Akte. Er war kerngesund, nahm nicht ein einziges Medikament, besaß noch fast alle Zähne, null Anzeichen irgendeiner Demenz. Keine Brille. Sein mittelblondes Haar war dicht wie das eines 30-Jährigen und ohne auch nur eine graue Strähne. Bewundernswert.« Er sieht mir in die Augen. »Hat er den sagenhaften Jungbrunnen gefunden?«
Dummes Gewäsch, denke ich. »Keine Ahnung«, sage ich leise. Ich seufze. Ich wische Tränen ab. Ich habe Uropa geliebt – sehr sogar, wie ich jetzt überdeutlich feststelle. Bedauern, Trauer, Selbstvorwürfe quälen mich. Warum habe ich ihn in den fünf Jahren, in denen ich in München lebe, nur jeweils drei Tage über Ostern und Weihnachten besucht? Mir jetzt unerklärlich. Ich vertreibe die schmerzenden Gedanken. Ich beherzige Uropas Motto: Der Vergangenheit nicht nachtrauern. Abhaken. In der Gegenwart leben, sie gestalten. In die Zukunft schauen, sie planen.
Ich bedanke mich. Neben dem Stuhl schnappe ich die weiße Plastiktasche mit dem blauen Aufdruck Patienteneigentum. Der Arzt gibt mir eine Visitenkarte. »Für das Beerdigungsinstitut. Die … die Leiche wird morgen früh freigegeben.«
Verabschiedung.
Mit einem Trauerrand rund ums Gehirn fahre ich mit meinem acht Monate alten BMW X 5 BZ, wobei BZ Brennstoffzelle bedeutet, zu Uropas Haus.
Im Blau des Himmels strahlt die Maisonne, leider an diesem Spätnachmittag des 14. Mai 2026, eines Donnerstags, bereits zu heftig. 27 Grad Außentemperatur zeigt der Bordcomputer. Hier fiel vor zwölf Tagen der letzte Regen, wie ich von einem der wöchentlichen Anrufe Uropas weiß.
Selbst der Ungebildetste, der hirnrissigste Leugner, der größte Ignorant, kann den, in den vergangenen sechs Jahren dramatisch fortgeschrittenen, Klimawandel nicht leugnen.
Das Auto parke ich in der Garageneinfahrt. Mit der Plastiktasche stelle ich mich vor das einstöckige Haus. Es steht im sogenannten Südviertel der rund 37.000 Einwohner zählenden Mittelstadt St. Ingbert. Die Stadt mit eigenem Autokennzeichen liegt im Saarland, ungefähr 15 Kilometer östlich der Landeshauptstadt Saarbrücken.
Uropa, der Großvater meiner Mutter, ließ das sandfarbene Haus vor zwei Jahren komplett renovieren. Dunkelblaue Dachziegel. Solarpanels und Solarkollektoren auf der schrägen Südhälfte des Daches. Tannengrün beschichtete Kunststofffenster und Haustür aus Teakholz mit zwei schmalen, länglichen Einsätzen aus dreifachem Isolierglas wie die Fenster und Terrassentür. Elektrisch betriebene metallene Rollläden.
Aus der Plastiktasche nehme ich Uropas Gürteltasche mit allen Schlüsseln und dem Portemonnaie, wie wir Saarländer eine Geldbörse nennen, Überbleibsel aus der zweifachen französischen Besatzungszeit. Die Wörter Chaiselongue, Plafond, Lamperie und Trottoir gehören immer noch zum Wortschatz älterer Leute.
Ich sperre die Haustür mit zwei verschiedenen Schlüsseln auf. In der Diele mit der Garderobe und dem Gäste-WC stelle ich die Tasche ab. Ockerfarbene Terrakottaplatten bedecken den Fußboden, auch die der übrigen Räume – bis auf einen – der 148 Quadratmeter umfassenden Wohnung. Ich betrete die 15 qm messende Küche. Matte vanillefarbene Schrankfronten. Arbeitsplatten aus hellgrauem Granit mit dunkelroten Einsprengseln. Induktionskochfeld. Backofen in Brusthöhe. Kühl-, Gefrierkombination. Geschirrspüler. Uropa erneuerte vor zwei Jahren auch die Einrichtung.
An der Spüle lasse ich etwa drei Liter Wasser laufen. Ich fülle ein Glas und trinke vier Schlucke. Bestes Grundwasser, kalkfrei. Ich verlasse die Küche. Die Schiebetür aus satiniertem Glas bleibt offen. Ich stoße die mit Vogelaugenahorn furnierte Tür mit Milchglaseinsatz zum 38 Quadratmeter messenden Wohn-, Esszimmer auf.
Ich spähe in alle Zimmer – bis auf eines. Die Wohnung riecht nach Uropa. Kein Alter-Mann-Geruch. Ein heimeliger, ein Wohlfühlgeruch. Ich atme durch, tief durch. Ich stelle mich vor Uropas Privatreich. Er nennt es – vielmehr nannte es – Der Raum. Er liegt gegenüber seinem Arbeits- und dem Schlafzimmer und neben dem großzügig geschnittenen Badezimmer.
Ich mustere die schlichte Tür aus deutscher Eiche, immer noch die gleiche wie nach Uropas Umbau 1973. Damals ließ er die nicht tragende Wand zwischen den zwei Kinderzimmern entfernen, die Türöffnungen zumauern und die jetzige Tür brechen. Es entstand Der Raum, 7,20 Meter lang, 4,40 Meter breit.
Das Holz der Tür wurde nie gestrichen, das zur Zeit des Einbaus aufgetragene Bienenwachs nie erneut. Trotzdem sieht die Tür wie nagelneu aus. Ich verstand das nie, verstehe es auch heute nicht. Mit dem Zeigefinger der zitternden rechten Hand streiche ich quer über das Holz. Ich fühle das Wachs. Ich bringe die Nase dicht an die Tür. Unverkennbarer Geruch von Eiche und Wachs.
Ich ergreife die geschwungene Klinke aus glänzendem Messing. Ich weiß, dass Uropa nie das Metall putzte. Seine Reinigungsfrau durfte nicht einmal Drücker oder Tür berühren, geschweige denn, den Raum betreten.
Seufzend öffne ich die Tür. Ich trete drei Schritte in den Raum. Lautlos lässt der automatische Schließer die Tür ins Schloss fallen. Zum zweiten Mal in meinem Leben stehe ich alleine im Raum, das letzte Mal vor zwei Jahren. Wie damals klopft ein bisschen Angst in meinem Gehirn, breitet sich leichtes Unbehagen im Innern aus, bimmelt irgendwo ein Alarmglöckchen.
Lachhaft. Ich, der rationale 30-jährige Wolf Wolfmann, ein Mann des 21. Jahrhunderts, ein Mann, der die Computer in- und auswendig kennt, dieser Mann fürchtet sich doch hier nicht wie ein kleiner Junge in einem finsteren Keller mit Spinnen. Unmöglich. Ein Unding. Nonsens. Ich stehe in einem stinknormalen Zimmer und nicht in einem Horrorkabinett. Ich verscheuche Angst, Unbehagen und Glöckchen. Und doch – und doch bleibt die Körperspannung. Tief innen, ganz tief, ganz hinten in einer finsteren Kammer meines Kleinhirns, in der offenbar die Rasseerinnerungen der Menschen hocken, wispert ein Etwas Unverständliches. Ich handele pragmatisch. Ich werfe die Tür der Kammer zu. Ich nagele sie zu. Stille im Gehirn.
Den Fußboden bedecken gewachste Dielen aus Buchenholz. An Decke und den Wänden brachte Uropa persönlich Kellenputz an. Er strich ihn mattweiß. Die zwei weißen grifflosen Holzfenster, 1,10 Meter hoch und einen breit, mit Sprossenverglasung – simples Einfachglas – zeigen Ausblicke in den Garten. Warum Uropa im Verlauf der letzten Renovierung die Fenster nicht erneuern ließ, wird ewig sein Geheimnis bleiben.
Rechts an der Wand steht das 1,80 Meter breite, elektrisch verstellbare Doppelbett mit einer Truhenbank am Fußende. Diese, die Nachttische, der Eckschrank in der rechten Ecke, der Garderobenständer daneben, die hüfthohe Kommode links der Tür und die brusthohe Kommode rechts neben dem zweiten Fenster bestehen wie das Bett aus Teakholz.
Vorm linken Fenster thront Uropas Schreibtisch von 1914 mit einem supermodernen Bürodrehsessel. Zwischen Sessel und Bett steht ein 70 Zentimeter durchmessender Tisch aus Edelstahl und Glas. Zwei mit weinrotem Leder bezogene Ohrensessel gruppieren sich darum. Ein raumhoher Kleiderschrank mit vier verspiegelten Schwebetüren beherrscht die linke Seitenwand.
Der elektrisch verstellbare, ebenfalls mit weinrotem Leder bezogene, Fernsehsessel vor der Bank bietet bequemen Blick auf den 55-Zoll-Flachfernseher an der Wand über dem Bett.
Wie bereits beim letzten Besuch streiche ich mit einem Zeigefinger über die Oberflächen der Möbel und – über die Oberseite des Türrahmens. Ich mustere den Finger. Kein Stäubchen! Fensterglas, Spiegelfront, das Weiß der Decke, Wände und rund um den Lichtschalter – makellos.
Ich weiß, dass Uropa im Raum nie Pinsel, Staubsauger, Putz- und Staublappen schwang. Unerklärlich. Rätselhaft. Geheimnisvoll.
Damals fragte ich: »Warum hast du nie Wissenschaftler beauftragt, das Geheimnis des Zimmers zu untersuchen? Willst du nicht wissen, was hier abgeht?«
Er sah mich mit merkwürdigem Augen- und Gesichtsausdruck an. »Gott schenkte mir den Raum. Man soll Gottesgeschenke nicht hinterfragen. Die blöden sogenannten Experten kennen doch nur ihre Uniweisheiten und die eigenen Erfahrungen. Diese Idioten würden mein Haus auf den Kopf stellen.«
Ich schnitt das Thema nie wieder an.
Langsam drehe ich mich im Kreis. Ich atme Geheimnis. Ich atme Unerklärbares. Ich atme den Raum.
Rechts neben der Tür prüfe ich das Display der Klimaanlage. 23,5 Grad und 55 Prozent Luftfeuchtigkeit. Regelmöglichkeiten gibt es keine. »Merkwürdig«, murmele ich. »Aber alte Leute lieben Wärme.«
Ich stelle mich vor das ungewöhnliche Klimagerät. Vertikal hängt es 30 Zentimeter über dem Fußboden an der Wand zwischen den Fenstern. Es ist 1,70 Meter lang, 74 Zentimeter breit und 47 tief. Es sieht aus wie neu, obwohl ich es bereits als Achtjähriger sah. Hohlkehlen umlaufen die Kanten der Seiten. Engmaschige Gitter verschließen von innen die Lüftungsschlitze. Schalter oder Regler finde ich keine. Ich halte ein Ohr an einen Schlitz. Wispern. Vergebens suche ich die Plakette eines Herstellers.
Ich wende mich um. Nach zwei Schritten bleibe ich abrupt stehen. Übergangslos – Ruhe, Frieden, Zufriedenheit breiten sich in mir aus. Wohlbehagen füllt jede Gehirnzelle. Ich – ich fühle mich geborgen, irgendwie beschützt, behütet. Äußerst seltsam. Äußerst merkwürdig. Äußerst eigenartig. Ich seufze. Ich gehe ein bisschen auf und ab.
2
Ich verlasse Raum und Haus. Die Haustür bleibt offen. Am Auto schlüpfe ich den sandfarbenen Sakko. Ich trage ein blaues Hemd ohne Krawatte, mittelblaue Jeans und braune Mokassins. Ich nehme den Koffer und die kleine Reisetasche aus dem Kofferraum. Das Gepäck stelle ich in die Diele. In der Küche leere ich das Wasserglas. Ich schaue auf mein TAG Heuer Carrera Chronometer, 18:16. Ich drehe mich um. Mein Blick fällt auf die Funkuhr über der Küchentür, der Zeiger springt auf 18:24. Ich schüttele mich. Ich kontrolliere die Armbanduhr, unveränderte Zeitangabe. »Das kann doch gar nicht sein«, murmele ich. »Unmöglich. Meine Uhr ist keine zwei Jahre alt und hat 6.900 Euro gekostet. Was ist hier los?«
Ich schiebe das Unerklärliche, das weitere Geheimnis an den Rand des Gehirns. Ich verlasse das Haus. Den BMW stelle ich in der Garage ab. Uropa verkaufte sein Auto vor sechs Jahren. Ich besitze eine Fernbedienung des Tores. Durchs tote Wohnviertel marschiere ich zur ungefähr einen Kilometer entfernten Albert-Weisgerber-Allee. Uropa klärte mich einmal über deren Namensgeber auf. Es handelt sich um einen Maler und Grafiker, der ein umfangreiches Werk hinterließ. Er wurde am 21. 04. 1878 in St. Ingbert geboren. Leider fiel er im Mai 1915 einer schrecklichen Bestie zum Opfer, die man Erster Weltkrieg nennt. Er diente mit dem Ungeheuer Adolf Hitler im selben Regiment.
Auf dem von Bäumen gesäumten Fußweg neben der rechten Straßenseite schlendere ich Richtung Innenstadt. An der Einmündung des zweiten Stichsträßchens rechts halte ich inne. Hier wollte Uropa die Allee überqueren, um wie jeden Mittwoch, im Restaurant Delphi schräg gegenüber zu speisen. Warum er nicht den nur 20 Meter entfernten Zebrastreifen benutzte, bleibt rätselhaft.
Ich seufze. Ich überquere die Straße am besagten Übergang. Im Lokal ordere ich Gyros – ohne Zaziki – Pommes frites, Salat und ein Weizenbier. Ich esse und trinke mit Genuss. Der Kellner serviert mir einen kostenlosen Ouzo. Ich zahle bar.
Auf dem Heimweg füllt mich Sehnsucht, Sehnsucht nach dem Raum. Ich brumme vor mich hin. Ich – ich beschleunige die Schritte. Im Haus hänge ich die Jacke an der Garderobe auf. Das Gepäck lege ich im Raum auf die Bank. Zufriedenheit im Kopf. Die Klamotten deponiere ich im mäßig bestückten beleuchteten Kleiderschrank. Reisetasche und Koffer finden links unten Platz.
Ich beziehe Bett, die dünne Bettdecke und das Kopfkissen frisch. Ich setze mich an den Schreibtisch. Ich kontrolliere den Inhalt der vier linken Schubladen. In der letzten liegt obenauf ein großformatiger Autoatlas des Jahres 1976. Darunter – blinkt Gold. Ich nehme einen der 26 Goldbarren in die Hand. 20 Gramm Feingold. Das Gramm kostet zurzeit 42,75 Euro. Ich rechne, 22.230 Euro.
Aus der ersten Schublade rechts schnappe ich den schmalen roten Aktenordner. Ich weiß, dass er dort liegt. Ich klappe ihn auf. Leise lese ich mir das mit Uropas Handschrift bedeckte Blatt Papier vor: »Mein lieber Urenkel Wolf, gräme Dich nicht über meinen Tod. Ich führte ein beschwerdefreies, angenehmes, ein zufriedenes Leben. Jetzt hocke ich gemütlich im Paradies der Ewigkeit. Ich bete zu Gott, dass Du ein ähnliches Leben führen kannst.«
Ich lächele. »Es gibt keinen Gott, Uropa, jedenfalls nicht in der Gestalt, in der ihn sich Menschen ausmalen.« Ich lese weiter: »Ich vererbe Dir alles, mein lieber Wolf. Unter der Schreibunterlage liegt die Visitenkarte eines Notars. Ich habe dort mein Testament hinterlegt. Mit ihm und einer Sterbeurkunde kannst Du beim Amtsgericht den Erbschein beantragen. Du kennst ja das Sandsteingebäude in der Ensheimerstraße nahe am Bahnhof.«
Schwungvolle Unterschrift. Ich lege die Visitenkarte rechts auf den Schreibtisch. Ich blättere um. Ein weiteres handschriftliches Blatt Papier. Überschrift: Vermögensaufstellung. Ich studiere sie: 200.000 Euro auf einem Festgeldkonto der Cosmos in Saarbrücken. 102.320 Euro auf einem Girokonto der Kreissparkasse Saarpfalz und 103.210 bei der hiesigen Zweigstelle der Deutschen Bank. Auf einem dortigen Festgeldkonto schlummern 120.000 Euro. Aktien und Fondanteile: 118.700 Euro. In Schließfächern der beiden Banken hockt Barrengold im Wert von 312.100 Euro.
Stirnrunzelnd murmele ich: »Frage mich, woher Uropa dieses Vermögen hat. Er war bis vor rund 34 Jahren ein hoher Beamter im Innenministerium in Saarbrücken. Seine Pension beträgt – betrug – 3.980 Euro monatlich, kein Vermögen heutzutage.«
Ich lese die letzten Zeilen. In einem Rollkasten unterm Bett und der unteren Schublade einer Kommode schlummern 310.000 Euro in 500er und 200er Noten und 7,2 Kilo Barrengold. »Sehr leichtsinnig«, sage ich. »Ein Einbrecher hätte Jubelarien angestimmt.«
Ich blättere weiter. Unterlagen der Pensionskasse, Gebäude-, Hausrat- und privaten Krankenversicherung.
In einer der restlichen Schubladen finde ich unter Abrechnungen der Stadtwerke und Grundsteuerbescheiden 16 Goldbarren zu je 100 Gramm: 68.400 Euro. Ganz hinten liegen 20 Geldbündel mit offenbar von Uropa gebastelten Banderolen: 90.000 Euro in 200er Noten. Zwölf Scheine zupfe ich heraus. Ich stecke sie in die rechte Hosentasche. Offiziell gehört mir das Geld noch nicht. Mir scheißegal. Weiß ja niemand davon. Ich überlege. »Prima, werde vom Erbe die Hypothek auf meinem Haus in Höhe von 430.000 Euro tilgen.« Von Freude erfüllt, danke ich Uropa.
Ich eile in die Küche und trinke Wasser. Erneut fülle ich das Glas. Im Raum schalte ich am Doppelschalter neben der Tür die beiden Nachttischleuchten ein. Das Wasserglas stelle ich auf den Nachttisch an dieser Bettseite. Der Raum verbreitet Wohlfühlatmosphäre.
Ich ziehe mich aus. Das Hemd hänge ich mit einem Bügel an den Garderobenständer. Die restlichen Klamotten lege ich auf die Bank. Mit Toilettentasche, blauen Boxershorts und hellgrünem T-Shirt betrete ich das Badezimmer. Weiße Marmorfliesen auf Boden und an den Wänden. Edle Ausstattung.
Ich mustere den nackten athletisch gebauten Mann im deckenhohen Spiegel hinter den beiden Waschbecken. 1,85 Meter. Weizenblondes Lockenhaar. Grasgrüne Augen. Ein Erbe meiner Mutter wie die Haarfarbe. Klassische Nase. Markantes Kinn. Flacher, fester Bauch. Ich blecke die Zähne. Tadellos. Alle noch vorhanden. Ich finde den Spiegelmann attraktiv. Den Hintern nennen die Frauen toller Knackarsch. Nein, ich bin kein Mann, der reihenweise Mädels aufreißt. Seit 23 Monaten pflege ich mit der jetzt 28-jährigen Viola ein Liebesverhältnis. Leider beendete sie es vor sechs Wochen. Sie argumentierte, ich sei offenbar mit meiner Firma verheiratet und habe für sie viel zu wenig Zeit erübrigt. Ich verstehe die Frau. Sie sprach die Wahrheit.
Mit der elektrischen Zahnbürste putze ich die Zähne. Ich betrete die ebenerdige Dusche.
In den Nachtklamotten kehre ich in den Raum zurück. Ich mustere das Display der Klimaanlage: 19 Grad, 45 Prozent Luftfeuchte. Ein weiteres Rätsel. Ich lasse den Rollladen des rechten Fensters drei Viertel und den linken zwei Drittel absinken. Dunkle Schlafzimmer sind mir ein Gräuel. Die Weckfunktion meines Leuchtweckers aktiviere ich nicht. Automatisch wache ich immer zwischen 6:15 und 6:30 Uhr auf. Ich lege mich ins Bett. Ich schalte die Lampen aus.
Das Schlafmeer zieht mich in dunkle Tiefen.
Ich öffne die Augen. Helligkeit – die Nachttischleuchten! Ich drehe den Kopf nach links. Ich … ich sehe Unglaubliches. Ich schließe die Augen. Ich öffne die Augen. Das Bild bleibt. Direkt neben meinem Oberkörper steht – eine Frau. Meine Augen scheinen mir einen Streich zu spielen. Ich erkenne die Goldhaarige wie durch eine Glasscheibe, über die Wasser fließt. Sie trägt einen körpernahen weißen Kittel. Die Frau scheint jünger als ich.
Sie … sie schlägt die Bettdecke komplett zurück. Gedankenwirbel. Sie legt mir die Hände auf den Kopf. Tiefste Ruhe, tiefster Frieden, tiefstes Wohlbehagen in mir. Wärmeinseln wandern im Gehirn umher. Wie lange? Unbekannt.
Die Frau – sie zieht mir Shirt und Shorts aus! Ich schäme mich nicht, warum auch. Ich hebe den rechten Arm, das heißt, ich versuche es. Klappt nicht. Ich liege unbeweglich. Nicht einmal Lider und Augen gehorchen mir. Bin ich jetzt tot? Steht der Todesengel neben mir? Besorgnis. Angst. Panik.
Die Frau legt mir erneut die Hände auf den Kopf. Sofort verschwindet das Paniktrio. Zufriedenheit. Die Frauenhände wandern zeitlupenhaft über mein Gesicht, den Oberkörper, Bauch, Unterbauch. Sie hinterlassen angenehmes Kribbeln, beruhigende Wärme, Wohlfühlen. Die Zauberhände wandern weiter – über den Penis. Sie kriechen an den Beininnenseiten hinab bis zu den Fußknöcheln. Über die Außenseiten der Beine, Hüften und des Oberkörpers kehren die Hände auf mein Gesicht zurück. Sie schließen mir die Lider. Ich kann sie nicht öffnen. Null Angst. Null Panik. Null Entsetzen.
Die Hände ruhen auf meinem Kopf. Ich liege wie eine Leiche. Trotzdem fühle ich mich quicklebendig. Eine schwarze Wand baut sich vor den inneren Augen auf. In der Mitte schimmert ein heller Punkt. Er rast auf mich zu. Er vergrößert sich rasant. Ich stürze in ein weißes Loch.
Ich reiße die Augen auf. Ich richte mich abrupt auf. Fahles Mond- und Sternenlicht kriechen durch die Lücken der Rollläden. Bettdecke, Shirt und Shorts am gewohnten Platz. Ich schiele zum Wecker, 2:13 Uhr. Ich schüttele mich. »Komischer Albtraum!«, krächze ich. »Teilweise angenehm, teilweise aber – ich weiß nicht, auf jeden Fall habe ich nie etwas derart Ungewöhnliches, Unglaubhaftes, Unwirkliches geträumt. Noch immer steht der Traum in allen Einzelheiten vor mir. Eigenartig. Ich vermute – die Unerklärbarkeit des Raums grub sich in mein Gehirn und beschäftigte es.« Ich lege mich auf die rechte Seite. Das Schlafmeer umarmt mich.
Aufwachen. Sofort schweben die Traumsequenzen an den inneren Augen vorüber. Der Wecker zeigt 4:07 Uhr. Wieso bin ich wach? Merkwürdig. Ich drehe mich auf die andere Seite. Ich kann nicht einschlafen. Ich bin hellwach. Ich aale mich in Wohlbehagen.
Im Badezimmer erledige ich die üblichen Tätigkeiten. Im Raum ziehe ich die gleichen Klamotten wie gestern an – bis auf die Unterwäsche. Ich lege das Chronometer an. In der Küche vergleiche ich es mit der Funkuhr – 7:30 gegen 5:10. Ich schüttele mich. Ich stelle das Chronometer. Ich fahre zur Bäckerei Kayser in der Ensheimerstraße. Mit zwei Doppelweck kehre ich zurück. Ich koche Kaffee. Ich stelle Butter, Bergbauernkäse und Himbeergelee, meine Lieblingsmarmelade, auf den kleinen Tisch mit den zwei Stühlen.
Eine knappe Stunde später fahre ich zu einem Beerdigungsinstitut. Ich kläre den fettleibigen Mann im dunkelgrauen Anzug auf. Ich ordere eine Urnenbestattung. Ich wähle eine Urne, die sich im Erdreich nach einer gewissen Zeit auflöst. Eine Zeitungsannonce lehne ich ab. »Die Sterbeurkunden können Sie am Montag ab 13:30 Uhr abholen«, beschied mir der etwa 50-Jährige. Ich reiche ihm meine Visitenkarte. Im Smartphone speichere ich seine Mailadresse und Telefonnummer.
Ich fahre in die Innenstadt. Ich schlendere durch die Fußgängerzone. In der Mittagszeit spaziere ich zur Imbissbude Zum Schleppi. Die Mädels grillen die Rostwürste, wie die Saarländer weiße und rote Bratwürste nennen, über Holzkohlen. Ich verdrücke eine weiße Currywurst – angeblich die beste im Saarland – mit Pommes frites.
In der Fußgängerzone setze ich mich vor Eisler’s Bierstube unter einen Sonnenschirm. Links daneben bewundere ich die im Jahr 1755 erbaute katholische Kirche St. Engelbert, von den Einheimischen Alt Kerch genannt. Ich trinke ein Weizenbier. Ich sehne mich nach dem Raum.